Rede zur Kundgebung am 5.7.2023 | „Flüchtlinge schützen“ – Demokratie braucht Menschlichkeit
Ort: Platz der dt. Einheit | Rathaus
Es ist wieder geschehen. 30 Jahre nach dem Asylkompromiss von 1993, vorbereitet durch Molotowcocktails von Neonazis, wiederholt die jetzige Bundesregierung die Abschaffung des Asylrechts ein zweites Mal. Diesmal unter dem Gejohle der CDU und AFD. Der Mob grölt im Bundestag. Was unter Seehofer noch kritisiert und als absurd zurückgewiesen wurde, wird jetzt von der Ampel-Regierung als historischer Erfolg gefeiert.
Wenige Tage nach dem „historischen Erfolg“ ertranken über 600 Menschen im Mittelmeer. Ermordet von der griechischen Küstenwache, die mutmaßlich mehrere illegale Pushbacks gegen das überfüllte Boot vorgenommen hat, bis es kenterte. Doch die Welt diskutierte lieber über durchgeknallte Milliardäre auf U-Boot-Erkundungstour, oder über noch durchgeknalltere Milliardäre, die sich in einem Käfigmatch duellieren wollen.
Spätestens an dieser Stelle muss sich noch der letzte halbwegs vernunftstabile Mensch die Frage stellen, wie ist es so weit gekommen? Wie können Menschenleben auf der einen Seite dermaßen egal sein und aktiv vernichtet werden, während auf der auf der anderen Seite das Social-Media-Erbrochene von überschätzten Spätpubertierenden so viel Relevanz hat.
Das Entsetzen über diese gesamte Situation wird nur noch von der schäumenden Wut über das Geschehene übertroffen. Doch wie können wir darauf reagieren, ohne vor lauter Ohnmacht auszubrennen.
Dietmar Dath spricht (in seinem kleinen Einführungsbändchen über Karl Marx) über zwei Formen von Wut. Die glühende heiße Wut, „sie schreit und beißt wider das Übel und verausgabt sich in spontanen Eruptionen“, die „kalte lernt und versteht, um das zu ändern oder abzuschaffen, was sie provoziert hat“.
Versuchen wir also zu verstehen, denn leere humanistische Phrasen, blinde Wut und empörtes Rumhusten hilft nicht. Was ist da passiert:
Der Diskurs um die Ausgrenzung von geflüchteten Menschen verschiebt die berechtigte Angst vieler hier lebender Menschen vor dem sozialen Abstieg, ein Abstieg, der wenn nicht bereits erlebt, ständig droht, lauert, wartet. Er verschiebt ihn auf Geflüchtete. Die Sorge vor dem Arbeitsplatzverlust, vor steigenden Mieten, immer teureren Lebenserhaltungskosten, vor schlechter medizinischer Versorgung, vor mangelndem Zugang zu Bildung und allerlei anderer unwürdiger Unerträglichkeiten sind mehr als berechtigt, werden täglich erlebt und verschärfen sich fortlaufend.
Vergessen wird dabei, dass diese Sorgen rein gar nichts mit Geflüchteten oder vermeintlich „Fremden“ zu tun haben, sondern Folgen der stetigen Umverteilung von unten nach oben (Stichwort Inflation), von kapitalistischen Krisenzyklen, dem tendenziellen Fall der Profitrate und den entsprechenden Reaktionen darauf sind.
Mit dem Verweis auf die „Geflüchteten“, die die öffentlichen Systeme belasten würden, wird ein Sündenbock geschaffen, um von den eigentlichen Problemen abzulenken. Ein Schema, das in Deutschland leider eine ekelhafte Tradition hat.
Aber nicht nur diese falsche Problemdarstellung ist irreführend. Das neugeschaffene GEAS-System widerspricht auch jeder wissenschaftlichen Expertise, die sich mit Migration- und Migrationsbewegungen beschäftigt. Es ist deutlich erkennbar, dass die neuen Verordnungen von realitätsfremden Verwaltungsbeamt*innen geschrieben wurden. Die neuen Verordnungen werden Migrationsbewegungen nicht aufhalten und kontrollieren können. Sie werden auch nicht zu mehr Gerechtigkeit und besserer Verteilung führen, sie werden auch das sogenannte „Schlepperwesen“ nicht eindämmen, oder wie Nancy Faeser sagt „Das Sterben im Mittelmeer beenden“. Sie werden lediglich dafür sorgen, dass sich Familien mit ihren Kindern und Alleinreisende auf noch gefährlichere Fluchtwege begeben müssen, noch häufiger zu Tode kommen werden, noch traumatisierter, noch entrechteter sein werden. Menschen flüchten, weil ihre Lebens- und Daseinsgrundlagen zerstört sind, sei es aus politischen, religiösen, intimen, klimabedingten oder wirtschaftlichen Gründen. Alles Dinge, an denen Deutschland und Europa fleißig mitarbeitet. Im gegenwärtigen Bürgerkrieg im Sudan wird mit deutschen Waffen gekämpft und vermeintliche „Entwicklungs“- und Wirtschaftsprogramme von IWF und Co haben zahlreich lokale Ökonomien zerstört und ausbeuterische Regime gestützt. Von kolonialen und postkolonialen Ausbeutungsregimen, z.B. in Form des European Union Emergency Trust Fund for Africa gar nicht zu sprechen. Wer trotzdem solchen Gesetzen zur „Migrationskontrolle“ zustimmt und denkt sie würden helfen, ist nicht besser als jeder Klimaleugner, der sich jeder wissenschaftlichen Evidenz verwehrt und denkt mehr CO² sei gut für die Pflanzen. Was für ein historischer Erfolg…
Besonders problematisch ist aber auch die von Deutschland und Europa betriebene Militarisierung und Hochrüstung von Grenzschutzagenturen und Grenzpolizei. War das Jahresbudget von Frontex 2004 noch 6 Millionen € sind es 2022 765 Millionen €. Tendenz weiter steigend. Auch mit selbsternannten Schattenarmeen und parastaatlichen Milizen wird kooperiert, oder freundlich drüber weggesehen, solange sie sich an der „Migrationsabwehr“ beteiligen. Gerne wird erzählt, dass alles sei notwendig, damit AfD und andere Faschisten nicht an die Macht kommen. Wie gut diese Strategie funktioniert, zeigen aktuelle Umfragewerte. Einsteins Definition von Wahnsinn passt da ganz gut: „immer wieder das Gleiche zu tun und andere Ergebnisse erwarten.“ In diesem Sinne kann man die aktuelle Politik als wahnsinnig bezeichnen, immer wieder wird aufgerüstet, immer wieder werden Gesetze gegen Geflüchtete verschärft (es gab allein über 15 Gesetzespakete in den letzten 8 Jahren, die die Situation von Geflüchteten in Deutschland verschlechtert haben). Nur den Umfragezahlen der AfD tut dies nichts. Im Gegenteil, sie steigen, weil ständig eine Sorge und Angst erschaffen wird, die den falschen Fokus hat.
Doch sind die Waffen erstmal angeschafft und die Frontex-Armeen hochgerüstet, stellt sich am Ende die Frage, wer befehligt sie? In Europa übernehmen immer mehr rechte und rechtsextreme Parteien die Regierung. In den USA wurden Border Patrol Einheiten bereits zur Aufstandsbekämpfung im Inland eingesetzt. Bereits jetzt hat die Bundespolizei umfangreiche Befugnisse für inländische Passkontrollen, aka racial profiling. Werden sie bald von Frontexsoldaten begleitet? Der menschverachtende Umgang an den Grenzen hat nicht nur eine Wirkung nach außen, sondern auch nach innen. Er zersetzt rechtstaatliche Prinzipien, verstärkt den ohnehin vorherrschenden Rassismus und schafft neoautoritäre Subjekte, die sich in Wahnfantasien von der „Zersetzung des Abendlandes“ reinsteigern.
Aber machen wir uns auch nichts vor. Es ist kein reines Problem des Wissens. Wenngleich viele Schweinereien vertuscht werden – unter aktivster Mitarbeit von Frontex (wer das für eine Legende hält dem empfehlen wir das Buch „Hinter Mauern“ von Volker Heins und Frank Wolff) – also auch wenn viele Schweinereien vertuscht werden und nicht ausreichend Berichterstattung stattfindet, ist es nicht so, als wüssten wir nicht, was im Mittelmeer, in Grenzlagern, an der Polnisch-Belarussischen Grenze, in Libyen, in der Sahra, in kroatischen Wäldern, in Abschiebeknästen und Aufnahmeeinrichtungen in Deutschland passiert. Wenn es ein Problem des Wissens wäre, wäre Aufklärung die Lösung. Aber die herrschende zynische Ideologie ist schlimmer. Sie wissen es, aber sie tun es trotzdem.
Es bleibt also die alte Frage: Was tun?
Hier stehen und sich grade machen ist ein Anfang.
Denn es fängt in den Kommunen an. Was wir nicht vergessen sollten, ist, wie sehr die ganze Verschärfung der Asylgesetzgebung, insbesondere in den letzten Wochen und Monaten von den Kommunen vorangetrieben wurde. „Die Kommunen sind überlastet“ schalte es von den Rathausdächern. Der Deutsche Städtetag, sowie zahlreiche Kommunal- und Landesregierungen haben die GEAS-Reform ausdrücklich begrüßt. Braunschweig machte, was es am besten kann. Es schwieg. Obwohl die Stadt die Rolle als Koordinierungsstadt der sicheren Häfen in Niedersachsen hat, blieb sie zu den Gesetzesverschärfungen und den drohenden Konsequenzen stumm.
Es ist an uns, dem etwas entgegenzusetzen. Die gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse mögen gerade nicht rosig sein. Daher brauchen wir munzipalistische Bewegungen und Netzwerke, die sich auf lokaler Ebene zusammenschließen, damit aus den Städten nicht mehr der Ruf nach mehr Ausgrenzung und Abschiebungen hallt, sondern solidarische Städte entstehen. Damit wir der Stumpfheit des Abstrakten (den Verwaltungsverordnungen (GEAS ist nichts anderes), den Ablehnungsbescheiden, der Behördengängelei), die Solidarität des Konkreten entgegensetzen können. Die Solidarität der gemeinsamen, selbstbestimmten Räume und der gemeinschaftlichen Angebote, zu denen jeder Menschen Zugang hat, ganz egal welchen Aufenthaltsstatus er*sie hat, egal wen er*sie liebt, egal welches Aussehen oder welche Religion.
Doch alleine wird’s nicht gehen, gemeinsam wird’s schwierig, zusammen könnt’s klappen.
Aber seien wir auch nicht naiv und versuchen es stattdessen mit einer Solidarität ohne Garantien (David Featherstone / Stuart Hall) wie sie Niki Kubaczek (Alarm Phone) formuliert: „Die globale Ungerechtigkeit und die Rassismen dieser Welt prägen uns […] so unterschiedlich und bringen so unterschiedliche Herausforderungen mit sich, dass wir eben nicht einfach sagen können, ich kann mich in die Situation von einem Geflüchteten im Plastikboot im zentralen Mittelmeer hineinversetzen, nachdem er geflohen ist und verschiedene Grenzen überquert hat, nachdem er die Sahra oder Libyen überlebt hat. Diese Diskrepanz bleibt immer bestehen. Vielmehr muss angesichts der immer anwesenden Differenz überlegt werden, wie an einem gemeinsamen Projekt gearbeitet werden kann. Es ist notwendig, eine Solidarität zu schaffen, in der wir versuchen einander zu verstehen, einander zu unterstützen, und zwar gegenseitig statt nur in eine Richtung.“
Ein letztes Wort noch: Vereine wie wir als Refugium, oder der Flüchtlingsrat, die sich für eine menschenwürdige Asylpolitik und Bleiberechte von Betroffenen einsetzen – also einfach für die Einhaltung rechtsstaatlicher Prinzipien und gesellschaftliche Solidarität – wurden vor nicht allzu langer Zeit als Anti-Abschiebeindustrie diffamiert. Vielleicht ist es an der Zeit auf die lehrreichen Erfahrungen der migrantischen und queeren Aktivist:innen zurückzugreifen und sich abfällig gemeinte Namen einfach anzueignen.
Ja, wir sind die Antiabschiebeindustrie – und ja, wir werden die Produktionskapazitäten hochfahren. Denn es gilt weiter: Kein Mensch ist illegal und kein Fußbreit den Faschisten!